Vom Reichtum des Älterwerdens

 

HEUTE IST GESTERN MORGEN

Schreibstationen - auf dem Weg zu meinem Buch

 

Eins. In der Schulklasse. Zum rhythmischen Klatschen rufen die Kinder „Märchen - frau erzähl‘ uns was! Märchen - frau erzähl‘ uns was!“ Und das Kind trägt seinen Drehstuhl nach vorn, wo die Lehrerin beiseitetritt, um ihm Platz zu machen. Unter ihrem wohlwollenden Blick beginnt es für sein jetzt mucksmäuschenstilles Publikum zu fabulieren, indem es unbekümmert Erlebtes und Phantasiertes miteinander verwebt so wie die Zeiten Heute, Morgen, Gestern durcheinander purzeln lässt.

Zwei. Das Kind steht vor dem dreiteiligen Spiegel im Schlafzimmer der Eltern.  Widerspenstige Haare mit der Hand beiseiteschiebend, sucht es auf seiner Stirn die „Lügen“, wie die Mutter das Fabulieren des Kindes nennt. „Die stehen dir auf der Stirn geschrieben“, hat sie gesagt. Erleichtert sieht es, dass im Spiegel auf keiner der drei glatten Kinderstirnen auch nur ein Wort geschrieben steht.

Drei. Mehr mehr noch als diese mütterliche Warnung fürchtet das Kind den sorgenvollen Ausdruck, den das Gesicht der Mutter annimmt, sobald es zu „fabulieren“ beginnt. Fürchtet ihn so sehr, dass es verstummt in Mutters Gegenwart. Es wird zu Mutters „stillem Kind“. Das klingt aus ihrem Mund wie ein Lob, das das Kind braucht und sucht.

Vier. Lange hatte ich Herzklopfen, wenn ich mich ans Schreiben machte. Als sei ich auf dem Weg, Verbotenes zu tun. Lange beugte ich mich dem inneren Diktat, „authentisch“ zu schreiben, eng am eigenen Erleben entlang, um nicht „zu lügen“.  Lange Jahre schrieb ich nichts Eigenes, sondern übersetzte Bücher, hinter denen ich mich mit meiner Wortkunst verstecken konnte. (Auch wenn das Übersetzen eine gute Schule war!) Lange hatte ich zu kämpfen mit meinem schlimmsten Feind beim Schreiben: Dem Ehrgeiz, der als innerer Zensor nur „Perfektes“ frei geben wollte und mir die Freude am Schreiben gründlich vermasselte. 

Fünf. Die „lernte“ ich neu in meinen eigenen Kursen für Kreatives Schreiben. Wo ich – frei nach dem Motto: „You teach what you need most to learn“ – sehr wohl wusste, wie wir die Ansprüche unseres Zensors unterwandern können, indem wir ihm eine lange Nase ziehen und einfach drauflos „fabulieren“.

Sechs. „Scheib‘ doch über dein Leben“, sagte eine gute Freundin, schreibvernarrt wie ich, eines Tages im Café Zimt und Zucker zu mir.

Sieben.  Jaaa…“ - aber wie? Ich brauchte nur in meinem Schreibzimmer die Stapel von Tagebüchern durchzublättern, um mehr als genug Stoff zu haben für ein Buch über mein Leben. Ich musste keine Zeile neu schreiben – was ich jedoch mit Vergnügen tat, wenn mein Alltag mir erzählenswert schien. Mit dem Schreiben dieses Buches schenkte ich mir nicht nur meine Vergangenheit, sondern auch meine Gegenwart, durch Worte bereichert, zurück. Denn im Schreiben eröffneten sich mir Einsichten, Anblicke, Tiefen die sich mir im unmittelbaren Erleben gar nicht aufgetan hatten. Und, wo es der Dynamik und Dichte des Textes zugutekam, erfand ich (!) Menschen, Dinge und Begegnungen. Mit einer Freude, die mich selbst erstaunte, und einem Gefühl von Freiheit, das mir völlig neue Möglichkeiten für mein Schreiben erschließt.

Acht. HEUTE IST MORGEN GESTERN: „Das Kleinste und Alltäglichste geht in diesem poetischen Tagebuch einher mit einem Ringen um große Themen wie Endlichkeit, Seele und eine zeitgemäße Spiritualität… Die Zeiten verschmelzen ebenso miteinander wie Traum und Wirklichkeit, Fakten und Fiktion.“  

Karin Petersen, August 2023

 

Karin Petersen, geboren 1950 im Weserbergland. Nach dem Studium der Germanistik und Politologie an der FU Berlin war sie 1976 bis 1979 Redakteurin der Frauenzeitschrift Courage. 1978 erschien ihr erster Roman Das fette Jahr (Kiepenheuer & Witsch). Praktiziert seit vielen Jahren Yoga und Meditation. Lebt als Autorin, Dozentin für Achtsamkeit und kreatives Schreiben sowie Übersetzerin (aus dem Englischen) in Berlin. Ihr letzter Roman Der Fluss, die Berge - die Berge, der Fluss erschien 2011 (Transit Verlag), ihr Tagebuch der Stille. Vom alltäglichen Leben mit Meditation 2018 (edition steinrich).

Ihr literarisches Tagebuch Heute ist Morgen Gestern. Vom Reichtum des Älterwerdens ist gerade erschienen und direkt zu beziehen über die Website der Autorin:  Karin Petersen