May Ayim. Poesie und Aktion

(…) du trägst die smaragdgrüne hose, die ich vor kurzem mit dir gegen einen pulli getauscht habe,

ich bin beinahe stolz, als sei ein wenig von mir an dir haften geblieben

eine leichte stimmung, kobaldblauer oktoberhimmel, wir plaudern, zwei junge frauen, freundinnnen

passanten schauen uns an

schauen dich an: schwarz, leerstellen in die luft gestanzt, eng um deinen körper herum, nicht dich sehen sie, nur ihre projektionen

schauen mich an: weiß, baum, haus, busstation, ampel…

wir sehen das blablabla in ihren gesichtern

während wir an diesem tag die potsdamer straße hinuntergehen, die irgendwo an der mauer, am todesstreifen endet,

den wir ignorieren müssen

begreife ich plötzlich etwas von deiner realität, begreife den unterschied, du musst deine existenz ständig rechtfertigen

während ich mich raushalten, wegschauen und schweigen kann

du musst, ich muss gar nichts (…)“

aus Cornelia Becker: „Radikale Lyrikerin, sanfte Rebellin, May Ayim“ im vorliegenden Band

 

Wer war May Ayim?

May Ayim (mit bürgerlichem Namen Sylvia Brigitte Gertrud Opitz) wurde 1960 als Tochter einer weißen deutschen Mutter und eines ghanaischen Austauschstudenten in Hamburg geboren. Kurz nach ihrer Geburt wurde sie in ein Kinderheim gegeben und im Alter von 18 Monaten von der weißen deutschen Familie Opitz adoptiert.

Aufgrund ihrer Hautfarbe erfuhr sie als dunkelhäutiges Kind die rassistischen Nachwirkungen des deutschen Kolonialismus, die noch heute fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft sind:

„Jahrelang lebte ich mit dem Empfinden, in der deutschen Gesellschaft weder eine Geschichte noch eine Zukunft zu haben, sondern eines Tages auswandern zu müssen. Dass das sehr belastend ist, steht außer Frage. Inzwischen ist mir klar, daß dies keine Einzelerfahrung ist und mein Erleben exemplarisch den Umgang mit einer Bevölkerungsgruppe widerspiegelt, die im Bewußtsein weiter Teile der deutschen Gesellschaft einfach nicht existent ist.“ [1]

 

May Ayim studierte Pädagogik und Psychologie und reiste während des Studiums erstmals nach Ghana, um ihr kulturelles Erbe zu erforschen. Die Begegnungen mit ihrer ghanaischen Großfamilie beschrieb May Ayim später mit dem Sinnbild eines „wallnussmangobaums“ (1995) – ein Baum des Lebens, das Früchte aus beiden Ländern trägt. [2]

 

Nach ihrem Studium arbeitete Ayim als Pädagogin, Autorin und Logopädin in West-Berlin, erforschte den Zusammenhang von Rassismus und Sprache und lernte dabei auch die für ihr weiteres Leben und Wirken zunehmend wichtiger werdende Schwarze US-amerikanische Wissenschaftlerin, Aktivistin und Poetin Audre Lorde kennen. Gemeinsam mit ihr entstandenProjekte und Publikationen zur Literatur und dem Schreiben Schwarzer Menschen in Deutschland.

 

Trotz der Erfolge ihrer Projekte, großer Anerkennung und weitreichender Solidarität, litt May Ayim immer wieder unter großen psychischen Belastungen und verbrachte  mehrere Aufenthalte in der Psychiatrie - so auch 1996.

Am 9. August 1996 entscheidet sich May Ayim endgültig dafür aus dem Leben zu gehen und springt in Berlin-Kreuzberg vom 14. Stockwerk eines Hochhauses. 

Verstummt.

 

Mit der Umbenennung des Gröbenufers in May-Ayim-Ufer 2010 wurde sie zurück geholt ins kulturelle Gedächtnis dieser Stadt und einer breiteren Öffentlichkeit erstmals bekannt.

Der vorliegende Band ist ein weiterer Schritt aus dem Vergessen hinaus in die fortwirkende Präsenz von May Ayim und dem immer noch nachwirkenden Engagement für die Literatur, für den schwarzen Aktivismus, für eine Neubestimmung der Vielfalt deutscher Kultur und Sprache.

 

Das von Ika Hügel-Marshall, Nivedita Prasad und Dagmar Schultz herausgegebene Buch MAY AYIM. RADIKALE DICHTERIN. SANFTE REBELLIN enthält berührende Zeitzeugnisse/Erinnerungsfragmente, Auseinandersetzungen und Interpretationen, geschrieben von Freund*innen, Kolleg*innen, Familienmitgliedern, Mitstreiter*innen.

Darüber hinaus sind 20 bislang unveröffentlichte Gedichte, Vorträge und Artikel von May Ayim selbst sowie Interviewbeiträge enthalten.

 

„Je länger ihr Tod her ist, desto irrealer erscheint er mir. Manchmal stelle ich mir vor, wie sie heute als 60jährige aussehen würde, es stellt sich aber kein Bild ein (…)“ aus Nivedita Prasad: „May, wie ich sie erinnere…“ im vorliegenden Band.

 

1] (Dr. Natasha A. Kelly (2018): May Ayim, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv. https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/may-ayim)

[2] Ebd.

 

 

Ika Hügel-Marshall, Nivedita Prasad, Dagmar Schultz (Hg.)

MAY AYIM.

Radikale Dichterin. Sanfte Rebellin

Unrast Verlag Münster 2021

ISBN: 978-3-89771-094-8