Mir die Welt geweitet...

 „Hannah Höch nimmt 1917 ein kleines Büchlein zur Hand und trägt fein säuberlich die ersten Namen von Bekannten und Freunden ein. Gut 60 Jahre später hat die Künstlerin ihr Adressbuch noch immer in Gebrauch. Unversehens ist es zu einer veritablen Collage angewachsen. Eingelegte Visitenkarten, überklebte Zusatzseiten, durchgestrichene Einträge und ergänzte Notizen haben die anfängliche Ordnung von A wie Amsterdam, Hans Arp und Augenarzt bis Z wie Zürich, Gertrud Zarniko und Galerie Zinke längst unterminiert. Das zerfledderte Original ruht heute in der Berlinischen Galerie: eine fragile Kostbarkeit mit maroder Heftung, abgegriffenen Ecken und knallroten Farbklecksen auf dem Umschlag.

 

 

Der Wert eines solchen Kompendiums geht weiter über den nostalgischen hinaus. Hier spannt der private Mikrokosmos ein überraschendes kulturelles wie politisches  Panorama auf und bietet sich als  Fundgrube und Steinbruch für künftige Forschungsstreifzüge an: internationale Künstlerinnen und Künstlerkollegen, Galeristen und Museen, MoMA-Kuratoren und Berliner Bürgermeister, Pariser Hotels und ein Reparaturschnelldienst finden sich darin alphabetisch verquirlt. Am besten schmökert man in dem bilderreichen Halbleinenband querbeet und gönnt sich das Vergnügen, dazu das digitale Faksimile des Notizbuchs auf dem DFG-Viewer online aufzublättern.“ (lt. Verlagsankündigung)

 

Mit Dr. Christine Fischer-Defoy, Autorin, Filmemacherin und Kunsthistorikerin ist eine der führenden Herausgeberinnen von Künstler*innen-Adressbüchern Gastrednerin der Tagung. Sie beschäftigt sie sich seit vielen Jahren mit den Lebensgeschichten deutscher Emigrant*innen und hat unter anderem die Adressbücher von Paul Hindemith, Walter Benjamin und Marlene Dietrich editiert.Daneben ist sie Vorsitzende des Vereins Aktives Museum Faschismus und Widerstand in Berlin, der sich mit der Geschichte von Widerstand, Verfolgung und Exil beschäftigt.

 

Zeig mir Dein Adressbuch und ich ahne Deine Welt...

 

Begonnen hat alles vor zehn Jahren mit der Herausgabe des Berliner Adressbuchs des Komponisten Paul Hindemith aus der Zwischenkriegszeit. Walter Jens hatte die Idee, doch die Ausführung besorgte Christine Fischer-Defoy. In Hindemiths privatem Adressbuch spiegelten sich die Jahre der beginnenden NS-Diktatur: Freunde und Bekannte wurden gestrichen, der größte Teil der Berliner Musikkultur wurde binnen kurzer Zeit weitgehend ausgetrocknet oder vertrieben.

Fischer-Defoy hat diese Veränderungen, die sich in Streichungen, neuen Adressangaben im Ausland oder kurzen Bemerkungen aus Hindemiths Feder artikulierten, im Anhang zu ihrer Faksimile-Wiedergabe der bekritzelten Seiten akribisch kommentiert. Und das war der grandiose Kniff: ein zeit- wie kulturgeschichtlich bedeutendes Dokument für einen großen Leserkreis aufzubereiten, indem man die Schicksale der Menschen in einem zusätzlichen lexikalischen, reich bebilderten Verzeichnis jeweils kurz erläutert. So entstand ein – zudem wunderbar gestaltetes – Lesebuch des inneren wie äußeren Exils.

Diese Arbeitsweise, dieses ‚editorische Rezept‘ hat Fischer später dann auch auf die Adressbücher von Marlene Dietrich, Walter Benjamin, Heinrich Mann, Frida Kahlo etc. angewandt.

 

Es ist Detektiv- und Puzzlearbeit aus all den - mal mehr mal weniger gut lesbaren – Namen, Orten, Streichungen und Querverweisen eine persönliche wie gesellschaftspolitische Landkarte entstehen zu lassen des jeweiligen Lebens(ver)laufs einer Person.

 

Das Eintauchen in Archive ist hier gleichbedeutend mit dem Bergen von Schätzen und mitunter ist es auch das Schlüpfen in eine fremde Haut auf Zeit…

 

 

 

 

 

 

 

Hannah Höch: „Mir die Welt geweitet“. Das Adressbuch.

 

Hg. von Harald Neckelmann. 320 S., Transit Verlag, 25 €.

Online Digitalisat des Originalnotizbuchs auf:

www.dfg-viewer.de